Verstand und/oder Gefühl?
Wie man kluge Entscheidungen trifft!
Wir Menschen verfügen in unserem Gehirn über zwei Systeme, die unsere Absichten bewerten und darüber bestimmen, wie eine Handlung entsteht und ob wir diese ausführen oder nicht. Beide Systeme sind auf unterschiedlichen Ebenen unseres Gehirns lokalisiert.
Das eine System ist unser bewusster Verstand in der Großhirnrinde (kortikale Ebene): Er bewertet nach den logischen Kriterien „richtig/falsch“ und benötigt eine gewisse Zeit, bis er eine Sachlage erfasst und beurteilt hat. Der Volksmund spricht von den sogenannten „Kopfentscheidungen“. Daneben haben wir unterhalb der Großhirnrinde im limbischen System unser unbewusstes System (subkortikale Ebene): Es bewertet nach den hedonistischen Kriterien „mag ich/mag ich nicht“ und reagiert innerhalb von 200 Millisekunden sehr viel schneller als der Verstand. Der Neurobiologe Gerhard Roth bezeichnet diesen Bereich des limbischen Systems als „emotionales Erfahrungsgedächtnis“. Dieses beruht auf Konditionierungsprozessen und beginnt seine Arbeit bereits vorgeburtlich im Uterus. Das kortikale System als Träger des bewussten Verstandes reift hingegen erst nach der Geburt aus und dieser Reifungsprozess ist erst mit dem Ende der Pubertät abgeschlossen. Im emotionalen Erfahrungsgedächtnis wird alles gespeichert, was dem Organismus zeit seines Lebens widerfährt. Dort wird das Wissen in Form von Gefühlen und Körperempfindungen gespeichert.
Das unbewusste System schickt dementsprechend seine Bewertung in Form von diffusen Körpersignalen, den sogenannten somatischen Markern. Dies ist der wissenschaftliche Begriff dafür, was im allgemeinen Sprachgebrauch als „Bauchgefühle“ bezeichnet wird.
Es existieren also zwei Systeme, die parallel arbeiten und ihre Bewertungen abgeben. Es gibt im Rahmen der Handlungssteuerung drei Varianten des Zusammenspiels von Verstand und Unbewusstem: Die Selbstkontrolle, die Impulsivität und die Selbstregulation.
Bei der Selbstkontrolle „unterdrückt“ der Verstand das Unbewusste und versucht, die Handlung so zu steuern, dass die Verstandesbewertung umgesetzt wird.
Wenn man z.B. allein beim Gedanken an die Wurzelbehandlung vor Angst schlottert, sich aber am Riemen reißt und Richtung Zahnarztpraxis losmarschiert, überwindet man mit Verstandeskraft die Fluchtimpulse des Unbewussten. Selbstkontrolle kann auch dazu dienen, das Unbewusste von etwas Unvernünftigen abzuhalten (Zigarette anzünden, wenn man das Rauchen aufgeben will) oder um etwas Vernünftiges durchzuführen, zu dem das Unbewusste keine Lust hat (morgens vor der Arbeit 30 Minuten joggen gehen, obwohl man lieber im Bett bleiben möchte).
Bei der Selbstkontrolle hemmt wie schon erwähnt der Verstand die Handlungsimpulse des Unbewussten. Dies ist extrem anstrengend und energieaufwendig. Der Verstand braucht hierfür optimale Arbeitsbedingungen. Unter folgenden Störbedingungen ist der Verstand nicht arbeitsfähig und die Selbstkontrolle bricht über kurz oder lang zusammen: Stress, viel um die Ohren haben, mehrere Dinge gleichzeitig beachten müssen, Über- bzw. Unterforderung, starke Gefühle (Angst, Sorge, Ärger, Wut, aber auch Euphorie), starke Reizumwelt (Ablenkung, Verführung zu alternativen Handlungen), mangelnde Befriedigung körperlicher und psychischer Basisbedürfnisse (Schlafmangel, Hunger, Durst, zu wenig Sonnenlicht, zu wenig Anerkennung, zu wenig Sinn in der aktuellen Lebenssituation, zu wenig Freunde und Beziehungen, zu wenig Freiheit).
Wenn Sie diese Störbedingungen auf sich wirken lassen, könnten Sie sich fragen: „Wann im normalen Alltag spielt denn keine dieser Störbedingungen eine Rolle?“ Bei 99 Prozent aller Menschen lautet die Antwort ehrlicherweise: „Nie!“ Daher liegt es auf der Hand, dass Selbstkontrolle völlig ungeeignet ist, um Absichten umzusetzen, die vom Unbewussten nicht gewünscht werden.
Selbstkontrolle lässt sich Erfolg versprechend einsetzen, wenn es sich um eine kleine Kurzzeitmaßnahme handelt, die umgesetzt werden soll: Der erwähnte Zahnarztbesuch, die Darmspiegelung im Rahmen der Krebsvorsorge oder das Sitzungsprotokoll schreiben. Für solche Einmal-Aktionen reicht die Kontrollkraft des Verstandes gut aus. Was jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg im ganz normalen Alltag umgesetzt werden soll, ist bei den meisten Menschen von vorneherein gefährdet, wenn sie nur auf Selbstkontrolle setzen. Zudem kommt, dass das Selbstwertgefühl nach einigen gescheiterten Versuchen immer weiter sinkt: Man erlebt sich als willensschwach und dies führt zu psychischen und physischen Belastungen. Im Übermaß betrieben, in einer Art „inneren Diktatur“, hat die Selbstkontrolle deutlich negative Auswirkungen. Wenn nur der Verstand gegen das eigene Gefühl das Verhalten bestimmt, läuft man große Gefahr, psychisch krank zu werden.
Die zweite Art, die Handlungen hervorbringen kann, ist die Impulsivität. Hier hat das Unbewusste das Ruder in der Hand. Wenn einem Jugendlichen in der Diskothek die Hand ausrutscht und er seinem Gegenüber im Streit das Nasenbein bricht, hat er aus Impulsivität heraus gehandelt. Bei den meisten Handlungen, die einem im Nachhinein leidtun, hat sich das Unbewusste unkontrolliert durchgesetzt und man hat sich Ärger eingebrockt, der oft vermeidbar gewesen wäre. Warum stiftet das Unbewusste manchmal Unheil, wenn man ihm freie Bahn lässt? Es liegt am Zeithorizont des Unbewussten, der sich ausschließlich auf das Hier und Jetzt richtet. Ein Choleriker zum Beispiel bekommt seine spontanen Gefühle und Emotionen nicht in den Griff, er agiert aus dem Affekt heraus. Kurzfristig mag er sich nach so einem Ausbruch besser fühlen – es ist aber eine Form des Kontrollverlustes, der nicht unerhebliche Schäden verursachen kann. Im Extremfall handelt es sich bei der Impulsivität sogar um ein Krankheitsbild.
Die Impulsivität unterscheidet sich deutlich von einer anderen, nicht vom Kopf dominierten Verhaltenssteuerung, dem Bauchgefühl. Direkt gefühlsmäßig „aus dem Bauch heraus“ zu handeln oder eine Entscheidung zu fällen kann sich nur jemand leisten, der auf dem Gebiet, auf dem gehandelt werden soll, ein Experte ist. Nur dann hat sein Unbewusstes, das zur Bewertung auf ein Erfahrungsgedächtnis zurückgreift, genügend Datenmaterial, um spontan und schnell Entscheidungen zu treffen, die auch einer späteren Verstandesüberprüfung standhalten. Eine Ärztin, die seit 20 Jahren in der Notaufnahme arbeitet, kann sich auf ihre spontanen schnellen Bauchgefühle verlassen. Ein junger frisch von der Uni kommender Arzt sollte sich besser nicht auf seine Intuition verlassen. Er fragt zur Sicherheit lieber noch schnell bei Oberschwester Hildegard nach, bevor er eine Entscheidung fällt, denn seinem Unbewussten fehlt noch die Erfahrungsbasis.
Beide bisher erwähnten Varianten des Zusammenspiels zwischen Verstand und Unbewusstem sind mit Vorsicht zu genießen, denn sie haben Nachteile.
Die optimale Zusammenarbeit beider Systeme ist durch eine dritte Variante, die Selbstregulation, gekennzeichnet. In diesem Fall kommen Verstand und Unbewusstes zur gleichen Bewertung und es entsteht psychisches Wohlbefinden. Wenn man sich vornimmt, morgens vor der Arbeit 30 Minuten joggen zu gehen und sich jeden Morgen darauf freut, ist das ein Fall von Selbstregulation.
Im Zürcher Ressourcenmodell (ZRM) wird mit der Selbstregulation gearbeitet. Das ZRM, entwickelt von Dr. Maja Storch und Dr. Frank Krause an der Universität Zürich, ist eine vielfach erprobte und wissenschaftlich fundierte Methode zur gezielten systematischen Entwicklung von Handlungspotenzialen, welche sich konsequent an persönlichen Ressourcen orientiert. Hier werden Verstand und Unbewusstes in mehreren Feedback-Schleifen aufeinander abgestimmt („Innere Demokratie“). Keines der beiden Systeme wird vom anderen „unterdrückt“ oder „überrannt“. Beide Systeme werden auf ein und dasselbe Ziel hin synchronisiert. Durch einen guten Umgang mit den beiden Systemen „Verstand“ und „Unbewusstes“ gelingt es, handlungswirksame Ziele zu entwickeln und diese selbstbestimmt zu erreichen. Gutes Selbstmanagement ist die Voraussetzung für seelisches und körperliches Wohlbefinden.
Es gilt, Entscheidungen sowohl durchzudenken als auch durchzufühlen. Eine kluge Entscheidung wird dann getroffen, wenn die Analyse des Verstandes, die bewussten Bewertungen, und die Bewertungen aus dem unbewussten emotionalen Erfahrungsgedächtnis zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen.
Das Training mit dem ZRM versteht sich als Psychoedukation im Sinne einer Anleitung für die Hilfe zur Selbsthilfe. Es hilft Ihnen, immer öfter so zu handeln, wie Sie es selbst wirklich wollen.
Ich freue mich sehr, Ihnen in meiner Praxis das Zürcher Ressourcenmodell anbieten zu können.